Der St. Hedwigs Friedhof war der erste katholische Begräbnisplatz nach der Reformation in Berlin. Er bestand von 1777 bis 1834. Während einer sechsmonatigen Grabungskampagne in Jahr 1997 konnten über 1000 Gräber und 120 Knochengruben auf dem ehemaligen Friedhof dokumentiert werden. In der anthropologischen Bearbeitung wurden die Skelette auf Alter, Geschlecht und Körperhöhe hin untersucht. Einen Schwerpunkt der Untersuchungen bildeten die pathologischen Veränderungen. Von ausgewählten Knochen wurden Röntgenbilder angefertigt. Ziel der Untersuchungen war die Rekonstruktion der Lebensbedingungen, der Ernährungslage und der Krankheitsbelastung.
Der Sterbegipfel lag im maturen Altersbereich und die Kindersterblichkeit betrug knapp 24%. Es dürfte allerdings ein Kleinkinderdefizit vorgelegen haben, da zeitgenössische Quellen eine Sterblichkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren von etwa 50% angeben. Das Geschlechterverhältnis war annähernd ausgewogen. Die durchschnittliche Körperhöhe aller erwachsenen Individuen lag bei 166,5 cm, also in der mittleren Körpergrößenklasse. Der Vergleich der Körperhöhenentwicklung der hier untersuchten Kinder mit einer Wachstumskurve rezenter Kinder ließ einen deutlichen Entwicklungsrückstand der Kinder des 18./19. Jahrhunderts erkennen.
Die gefundenen krankhaften Veränderungen wurden in folgende Gruppen aufgliedert: Trauma, degenerative Veränderungen, Erkrankungen der Zähne und der Kieferknochen, Anzeichen für Mangelzustände und Auflagerungen auf Knochenoberflächen. Besondere pathologische Einzelfälle ebenfalls beschrieben.
Anhand der Ergebnisse der ersten anthropologischen Bearbeitung der Skelette wurde geschlussfolgert, dass die Lebensbedingungen für die katholische Bevölkerung im Berlin des 18./19. Jahrhunderts anscheinend eher günstig waren. Die recht hohe Lebenserwartung und das durchschnittlich hohe Sterbealter führten zu dieser Annahme. Weitere vertiefende Untersuchungen widerlegten diese Annahme jedoch. Insgesamt wurden in den letzten Jahren fünf universitäre Abschlussarbeiten durchgeführt, die weitere wichtige Erkenntnisse über das Leben der Berliner im 18./19. Jahrhundert brachten. Das Interesse an der Skelettserie vom Katholischen Friedhof reichte von der Freien Universität Berlin, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bis zur Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Auch Timmermann (2004) kommt noch in ihrer Arbeit zu dem Schluss, dass es den Katholiken verhältnismäßig gut ging. Doch unter Einbeziehung der Ergebnisse der histologischen und chemischen Analysen von Strott (2002) und Hahnenkamp (2006) aus München ergibt sich ein deutlich anderes Bild. Nun zeigte sich, dass die Menschen unter erheblichem körperlichem Stress lebten, durchschnittlich früh verstarben und unter Hunger litten. Hunger als Langzeitzustand ist die spürbarste Form von Armut. Bei extremen Formen des Hungers ist mit gehäuftem Auftreten so genannter Hungerkrankheiten zu rechnen, die in Kombination mit Infektionskrankheiten zahlreiche Opfer forderten.
Ob diese Ergebnisse generell für frühneuzeitliche Populationen in Brandenburg gelten oder einen Berliner Einzelfall darstellen, müssten weitere Untersuchungen zeigen. Verschiedentlich gibt es Hinweise, dass auch die Lebensumstände für ländliche Populationen in der frühen Neuzeit schlecht waren und es vermutlich zu einer allgemeinen Verschlechterung der Lebenssituation für die Menschen vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit gekommen ist.
Die hier vorliegende Skelettserie des katholischen St. Hedwigs Friedhof ist eine der umfangreichsten im Berliner Raum. Die Ergebnisse der Skelettanalysen geben wichtige Einblicke in die Lebensbedingungen der Menschen des späten 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert.
Blick auf die regelmäßig angeordneten Gräberreihen des 19. Jahrhunderts
Stark verbogene Beinknochen sind die Folgen einer Osteomalazie
Wedekin CH & Jungklaus B (1998): Ausgrabung des ehemaligen katholischen Friedhofes in Berlin-Mitte. Archäologie in Berlin und Brandenburg 1997, 88-90.
Fester J & Jungklaus B (1998): Anthropologische und paläopathologische Ergebnisse der Skelettserie des St. Hedwigs Friedhofs aus Berlin-Mitte. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Bd. 19, 87-96.
Fester J & Jungklaus B (2000): Der erste katholische Friedhof Berlins nach der Reformation (18./19. Jahrhundert). In: Schnittstelle Mensch – Umwelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Proceedings, 3. Kongress der Gesellschaft für Anthropologie (GfA).Cuvillier Verlag. Göttingen, 242-244.
Jungklaus B (2011): Der Friedhof im anthropologischen Befund. In: Melisch CM: Der erste katholische Friedhof Berlins. Archäologie. Anthropologie. Geschichte. Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin, Bd. 36, 22-33.